Nicht nur gerührt sein, sondern sich rühren!
Nicht nur gerührt sein, sondern sich rühren!
Besuch in Ravensbrück Siebzig Jahre nach der Befreiung des Frauenkonzentrationslagers
Die KSJ Trier ist mit Ravensbrück über das Kleid der Zofia Klinke verbunden; hier wurde es gewebt und genäht, hier musste es getragen werden als einziges Kleidungsstück in Kälte und Hitze, in der Zwangsarbeit und in der Baracke. Nachdem ich im letzten Sommer zum ersten Mal für ein paar Tage in der Gedenkstätte war, erreichte mich die Einladung für die Fahrt zur Erinnerung an die Befreiung. Gemeinsam mit Margret Müller aus Köln, die das Kleid vor rund 10 Jahren von Zofia Klinke geschenkt bekam und einer großen Gruppe vom Maximilian-Kolbe-Werk und der kfd Düsseldorf war ich dort. Der sofort erkennbare Gegensatz konnte kaum größer sein: Die Gedenkstätte des ehemaligen Konzentrationslagers Ravensbrück liegt inmitten eines idyllischen Feriengebietes, am Rande de Schwedtsees, umgeben von frischem Frühlingsgrün. Dieser Bruch war nicht der einzige, der uns begegnete; Brüche zogen sich wie rote Linien durch die Tage im Gelände des ehemaligen Lagers, in dem über 120.000 Frauen und Mädchen inhaftiert waren. Eingestimmt auf gebrochene Lebensentwürfe wurden wir am ersten Abend durch den Film „Die Frauen von Ravensbrück“ von Loretta Walz, die im anschließenden Gespräch Aufschluss darüber gab, wie sie den überlebenden Zeuginnen mit Hilfe ihrer aufgezeichneten Interviews ein würdiges Vermächtnis setzt. Es spielte eine große Rolle für die Überlebenschancen, ob jemand mit 17 Jahren oder als lebenserfahrene Frau in das Lager kam, ob jemand den Verhaftungsgrund wusste und sogar das Risiko bewusst eingegangen war oder darüber im Ungewissen gelassen wurde, ob die zugewiesene Zwangsarbeit unter einem Dach oder auf einer Baustelle bei Wind und Wetter geleistet werden musste. Das alles prägte die jeweilige Überlebensstrategie, wobei der allgegenwärtige Hunger und die entsetzlichen hygienischen Verhältnisse alle Frauen trafen. Das scheint der unbewusste Grund dafür zu sein, dass die meisten überlebenden Zeuginnen bis ins hohe Alter sehr großen Wert auf ihr äußeres Erscheinungsbild legen, die einmal tief verletzte Weiblichkeit und Schönheit scheinen ihr Recht zu verlangen. Nichtkommerzialisierbare Schönheit hat eben etwas Widerständiges und Revolutionäres! Auch die beiden Zeitzeuginnen beindruckten durch ihr würdevolles und aufrechtes Äußeres. Alicja Kubecka aus Warszawa, 88,überlebte die neun Monate KZ-Haft, Zwangsarbeit und den Todesmarsch vor der Befreiung im April 1945 und fand mit ihrer inneren Stärke zu einem normalen Leben zurück. Katarzyna Mateja aus Ruda Slaska, 95, gehörte während ihrer dreijährigen Haft zur geheimen Pfadfinderinnengruppe „Mury“, der es gelang, durch gegenseitige Solidarität Menschlichkeit zu retten. Die Gespräche mit beiden Zeuginnen verdeutlichten, dass es möglich war, durch einen tiefen christlichen Glauben die Potentiale von innerer Kraft und Hilfsbereitschaft wach zu halten -eine Haltung, die beide bis heute prägt und ihre Versöhnungsfähigkeit ermöglicht hat. „Niemand ist böse geboren, jeder ist gut vor dem Herrn“, davon ist Frau Mateja überzeugt. Bis zum 70. Lebensjahr konnte sie über ihre Erfahrungen nicht sprechen; die Begegnung mit einer Deutschen beim Friedensgruß in einem Gottesdienst löste ihre gehaltene Zunge. „Sie hat geweint und ihre Tränen haben etwas von mir gewaschen; seitdem kann ich erzählen vom Lager“, sagt sie. Tief berührend war auch die Lebensgeschichte von Ingelore Prochnow, die 1944 im Lager geboren wurde. Sie hat nur überlebt durch die Hilfe der sog. „Lagermütter“, die in der Baracke über den Säugling wachten, ihn mit dem wenigen, was sie hatten, irgendwie durchbrachten. Ihre junge unverheiratete Mutter hat die tiefe Schädigung durch Entwürdigung und das Lagerleben nicht verkraftet; sie gab das Kind mit drei Jahren in Pflege. Welche besondere Demütigung ihr zugefügt wurde, wird wohl nie mehr aufgedeckt werden. Erst in den 80er Jahren erfuhr Ingelore Prochnow von ihrer Herkunft und diesem Bruch in ihrem Leben; die späte Begegnung mit ihrer Mutter war enttäuschend. Die Gewissheit, in ihrem ersten Lebensjahr viel Liebe und Durchhaltevermögen erfahren zu haben und ihr Mann geben ihr Kraft für die Bearbeitung ihrer schwierigen Lebensgeschichte. Dass ein politisches System Menschen tief in ihrem Kern zerstören kann, ist eine bittere Erkenntnis – dass das gleiche System Widerstandskraft und Menschlichkeit auf den Plan rufen kann, ist die nicht umzubringende Hoffnungsgeschichte. Zahlreiche Dinge in der Ausstellung der Gedenkstätte erzählen sie: Winzige Pantöffelchen aus Stoffresten genäht, Rosenkränze aus Brotkügelchen geformt, Tüchlein bunt bestickt, Zeichnungen und Gedichte auf Papierfetzen aufgebracht – alles kleine Geburtstagsgeschenke und Zeichen von durchgehaltener Frauenfreundschaft. Auch viele hinterlassene Lebensberichte, die Elisabeth Prégardier seit Jahrzehnten zusammenträgt, lassen sie erkennen. Viele davon sind erst kürzlich erzählt, einige wenige schon seit Jahren in Buchform erhältlich. Diese Augenzeuginnenberichte sind eine wichtige Grundlage für die wissenschaftliche Bearbeitung und den vertieften Erkenntnisgewinn aus diesem Teil unserer Geschichte, der sich immer wieder um neue Sichtweisen erweitert. Die Arbeit daran hilft uns heute, die Entstehung von Ideologien und Abhängigkeiten zu verstehen, in Zeiten von wachsenden Ressentiments gegen Fremde in unserem Land und einem drohenden neuen kalten Krieg zwischen Ost und West von unschätzbarem Wert. In jüngster Zeit hat die Forschung einen besonders schmerzlichen Teil der Demütigung bearbeitet: Dass in Ravensbrück junge Frauen ausgesucht und für die sog. Lagerbordelle aufgepäppelt und verschleppt wurden, um in anderen Lagern und der SS sexuell zu Diensten zu sein. Zu den neuen Erkenntnissen gehört auch, dass deutsche Frauen als Angestellte der SS Aufseherinnen über die Inhaftierten waren und sich z.T. besonders grausam aufführten. Vor diesem irritierenden und schmerzlichen Hintergrund war die Teilnahme an der offiziellen Gedenkfeier zur 70-jährigen Befreiung des Lagers tief berührend: Für einige der rund hundert überlebenden Frauen mag es das letzte Mal gewesen sein, sich an diesem schrecklichen Ort ihres Lebens wiedergetroffen zu haben. Aufrecht und jederzeit auskunftsbereit traf man sie im Gelände der Gedenkstätte an, begleitet von ihren Familienangehörigen, die meisten Vertreterinnen einer der Lagergemeinschaften, die sich gebildet haben. Trotz der Vielfalt der vertretenen Nationalitäten entsprechend der damaligen Inhaftierten hat die Erinnerungskultur in Ravensbrück ein gemeinsames Symbol: Rosen, gepflanzt an der Außenmauer des Lagers oder schwimmend auf der Oberfläche des Schwedtsees ,dem Wasser übergeben als Würdigung für die Asche der Toten, die es birgt. Die Geschichte (n) von Ravensbrück sollten dazu dienen, unsere Ausstellung zum Kleid der Zofia Klinke zu bereichern. Das spezifische Leid, das Frauen zugefügt wurde, darf nicht vergessen werden; es ist ein wichtiger Teil der europäischen Frauengeschichte. Denn das Leiden der Frauen von Ravensbrück hat nicht das Gewissen der Welt erschüttert, so wenig wie das die täglichen Toten im Mittelmeer tun. Es wird Zeit, dass sie endlich ihren rechtmäßigen Platz in der Geschichte einnehmen, damit sie uns berühren und zum rührig sein anstoßen.
Jutta Lehnert