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Thematisches Wochenende in Rascheid zum Thema Alternative Wirtschaftssysteme
„Alternatives Wirtschaftssystem“. Alleine das Wort hört sich an wie blanke Blasphemie in Zeiten, in denen überall von Alternativlosigkeit und vermeintlichen Sachzwängen die Rede ist. Für Jahre des Faulenzens müssen die Griechen nun ihr Sozialsystem abbauen und die Zyprioten müssen für gebilligte Geldwäsche nun mit ihrem eigenen Geld grade stehen. Beides sind rationale, logische Konsequenzen und Alternativen undenkbar.
Bürger werden in Statistiken als Konsumenten aufgeführt, die es gilt bei Laune zu halten, um einen hohen Konsum zu erzielen. Die Schule und die Uni zielen darauf ab, möglichst schnell neue Fachkräfte auszubilden, um dem von Unternehmen beklagten Fachkräftemangel entgegen zu treten. Und fragen wir uns nicht schon sehr früh: „wie fühlt es sich so an, wenn man es geschafft hat: vollbeschäftigt, unbefristet, glücklich?“ (1)
Jeder der Teilnehmer*innen brachte eigene Probleme mit in das Wochenende, die annehmen ließen, der Kapitalismus sei mehr als nur ein Wirtschaftssystem. Grade diejenigen, die im Studium sind, waren unzufrieden mit dem „Bulimielernen“ von Wissen, ohne die Chance zu haben sich vertiefend mit wissenschaftlichen Themen auseinanderzusetzen; also dieses Gefühl, nur noch zu studieren, um nachher Zahnrad in einem System zu werden. Damit einhergehend war auch das Zeitproblem, das sich unteranderem an der geringen Teilnehmerzahl äußerte. Viele Interessierte konnten sich das Wochenende nicht freinehmen, da sie arbeiten mussten oder Hausarbeiten schrieben, sodass eigenen Bedürfnisse hinten angestellt blieben.
Insgesamt waren wir nur elf Teilnehmer, die aufgrund ihrer politischen oder theologischen Einstellung auf der Suche nach Alternativen waren bzw. für sich persönlich gemerkt haben, ihr Leben anders gestalten zu wollen, als es ihnen Werbung und Mainstream vorschlägt. Einig waren sich alle in dem Punkt, dass die „innere Landnahme“ des Kapitalismus weit fortgeschritten war. D.h. dass Kapitalismus nicht nur ein Wirtschaftssystem ist, sondern seine ursprünglich wirtschaftlichen Ideen auf andere Lebensbereiche und auf Gedanken von Menschen ausbreitet. So verbrachten wir den Freitagabend damit Erlebnisse auszutauschen, in denen wir gemerkt haben, gegen unseren Willen, gegen unseres Bedürfnisses entschieden zu haben, um äußeren Zwängen gerecht zu werden, also nicht mehr frei waren. Ein Teilnehmer berichtete beispielsweise, dass es ihm schwer fällt sein gesellschaftliches Engagement z.B. bei der KSJ aufrechtzuhalten, da er von morgens bis abends mit der Uni beschäftigt ist und sich trotzdem nicht tiefgehend mit den Studieninhalten beschäftigen kann, da ihm schlichtweg die Zeit in den Seminaren und Vorlesungen dafür fehlt.
Den Samstag moderierte dann der bereits freitags angereiste Referent Christian Siefkes. Als Informatiker mit Vorliebe für Gemeinschaftsarbeiten wie den Internetbrowser Mozilla Firefox und Mitglied bei keimform (2) kennt er sich bestens aus, wenn es um Alternativen zum Kapitalismus geht, aber dazu später mehr. Er verstand sich von vornherein als Teil der Gruppe und gestaltete seinen Vortrag daher auch nicht als Monolog, sondern teilte sein Wissen mit der Gruppe, sodass die Diskussionen umso fundierter wurden.
Am Vormittag stand die Kapitalismuskritik im Vordergrund. Christian schaffte es analytisch und klar, die persönlichen Erlebnisse, die wir am Vorabend geschildert hatten, mit theoretischem Fundament zu unterfüttern. Wenn es nur noch um die Profitmaximierung geht, werden im Enddefekt Beziehungen zwischen Personen zu Beziehungen zwischen Dingen. Diese Erkenntnis, die schon Karl Marx in „Das Kapital“ schilderte, zwingt quasi dazu dem Kapitalismus den Rücken zu kehren. Denn was daraus folgt ist fatal. Menschen begegnen sich untereinander nicht mehr in ihrem „Menschsein“, sondern sehen nur, was der gegenüber verkörpert, also welche Position er im Berufsleben innehat, wie viel Eigentum er besitzt und welchen Vorteil aus dieser Bekanntschaft für einen selbst erwächst.
Aus solchen Beziehungen ist es natürlich nur dann möglich Profit zu schlagen, wenn ich „mehr habe“ als mein Gegenüber – etwa mehr Kompetenz, mehr Eigentum, mehr Macht. Jeder steht in Konkurrenz mit jedem, steht als Annahme dahinter. Doch auch hier führt es nicht dazu, in seinen Mitmenschen das Menschliche zu sehen, sondern endet in der Abgrenzung nach Unten. Rassismus, Sexismus oder „Hartz4-Bashing“ werden durch den Kapitalismus nicht nur gebilligt, sondern gefördert. Was also tun mit einem System, das alles einer „Verwaltungslogik“ unterwirft und sich selbst ins Absolute überhebt, das uns in einer Illusion von Freiheit leben lässt, unseren wahren Bedürfnissen als Menschen aber keinen Platz einräumt?
Christian Siefkes antwortet darauf mit „Commonbasierte Peer-Produktion“. Kurz zu den Begrifflichkeiten: Commons sind Gemeinschaftsgüter und Peers sind gleichberechtigte, ebenbürtige Menschen. Das Motto dieser anderen Wirtschaftsform ist „beitragen statt tauschen“ (3). Es geht also darum, dass Menschen nach ihren Bedürfnissen Gemeinschaftsgüter zusammen entwickeln, pflegen und nutzen, unter vorher von allen akzeptierten Regeln und unter Ausschluss von Geld oder anderen Gegenleistungen, auf absolut freiwilliger Basis. Gegenüber dem Kapitalismus steht dabei ein vollkommen andere Grundmaxime: Es geht nicht mehr um Profitbefriedigung sondern um Bedürfnisbefriedigung, also die Freiheit eines jeden Menschen selbst zu entscheiden, wie er tätig werden möchte.
Jeder Mensch soll nach seinem eigenen Ermessen, ohne zu irgendetwas gezwungen zu werden, entscheiden, in welchem Bereich und wo überhaupt er sich für die Gesellschaft einbringen möchte. Danach schließen sich Interessengruppen zusammen, um gemeinsam eine Aufgabe anzugehen. Wer also gerne mit Holz arbeitet, baut Häuser, Natur- und Garteninteressierte kultivieren Obst und Gemüse für die Gemeinschaft und diejenigen, die sich in die Sterne verguckt haben, forschen sich ergänzend an neuen Erkenntnissen über das Universum.
Soweit zur Theorie, aber wie diese konkret umgesetzt werden soll, konnte sich keiner der Teilnehmer wirklich vorstellen. Gut, dass Christian Informatiker ist, auf diesem Gebiet wird ebendiese schon längst angewendet! Das Betriebssystem GNU/Linux, einzige Alternative zu den Oligarchen des Computermarktes Microsoft und Apple, wurde von unzähligen Freiwilligen gemeinsam entwickelt. Damit ist Linux nicht nur kostenlos, sondern, da es direkt an den Bedürfnissen der späteren Anwender programmiert ist, auch das sicherste aller Betriebssysteme. Auf Linux basiert übrigens auch das gängigste aller Smartphone-Betriebssysteme Android. Doch auch wer von unterschiedlichen Betriebssystemen wenig versteht, kennt die Wikipedia-Enzyklopädie, welche ebenso auf Freiwilligkeit ihrer Mitgestalter basiert. Dadurch ist sie zur fünftgrößten Internetseite weltweit geworden.
Zugegeben, die Peer-Ökonomie setzt einiges voraus. Alleine, dass sie davon ausgeht, dass jeder Mensch gerne etwas zur Gesellschaft beiträgt ohne gezwungen zu werden, ist in Zeiten, in denen selbst Gemeingüter schon als nicht umsetzbar gelten, da der Mensch ja doch seinem egoistischem Interesse unterläge, nur schwer vorzustellen. Und abgesehen davon, dass die konkrete Umsetzung solch eines Wirtschaftssystems gerade in der materiellen Produktion wirklich schwer umsetzbar erscheint, war oben genanntes der gewichtigste Einwand einiger Teilnehmer: der Kapitalismus wird sich nicht ohne Gegenwehr abschaffen lassen.
Doch Christian Siefkes hatte darauf eine gute Antwort. In der Geschichte sind Umbrüche nie von jetzt auf gleich entstanden, sondern waren immer Teil eines langen Prozesses. Ebenso wie der Kapitalismus nicht plötzlich da war, muss auch eine neue Wirtschaftsform nicht revolutionsartig auftauchen, sondern kann sich langsam ausbreiten. Dies war somit auch eine Antwort auf eine der zentralsten Fragen vieler Teilnehmer: „wie trete ich der angeblichen Alternativlosigkeit des Kapitalismus entgegen?“. Wenn einige Menschen mit gutem Vorbild vorangehen – etwa in der Informatik-Branche – entwickeln sich neue Ideen und Menschen schließen sich zusammen. Es ist die Idee der Peer-Ökonomie, dass Menschen dynamisch zusammenwirken, um ihre Bedürfnisse zu befriedigen. Peer-Ökonomie ist nicht alternativlos.
Blasphemie (altgr. Blasphêmía – die Gotteslästerung, zusammengesetzt aus bláptein – ‚Schaden bringen‘, ‚benachteiligen‘ und phếmê – ‚die Kunde‘, ‚der Ruf‘): Der Vorwurf der Blasphemie richtet sich gegen die Abweichung von einem Glaubenssystem, das unantastbar sein soll. Eine Person, die eine andere Person der Blasphemie bezichtigt, setzt ihr eigenes Glaubenssystem absolut und leugnet zugleich den Sachverhalt, dass ihr Glaubenssystem nur eines von vielen ist. (4)
Wer den Kapitalismus als alternativloses System verteidigt, unterscheidet sich nicht von fundamentalistischen Religionsanhängern. Das Argument: „Es gibt ja doch nichts Besseres als den Kapitalismus“ zählt nicht, denn damit unterwirft man sich einem im Grunde totalitären System, dessen wahres Ziel – die Profitmaximierung – nicht mit den Bedürfnissen jedes einzelnen Menschen vereinbar ist. So gesehen, ist der Kapitalismus die Blasphemie, denn er bringt Schaden über die Verkündung der Freiheit der Menschen. Daran erinnerten wir uns im abschließenden Gottesdienst, dass wir auf der Suche nach Gerechtigkeit nicht innehalten werden, bis wir so leben, dass jeder Mensch auf Erden nicht nur satt, sondern auch glücklich ist, wie es Brot und Wein in der Bibel verkünden.
Quellen:
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„Geringfügig, Befristet, Raus“ – Kettcar (Sylt, erschienen 2008 bei Grand Hotel van Cleef)
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http://de.wikipedia.org/wiki/Blasphemie (16.05.2013)