Aktuelles aus der Ausstellung Teil 2
Dass Menschen mit ihrer Fassung ringen, wenn sie vor dem Kleid stehen, erleben wir jeden Tag. Zwei besondere Begegnungen von heute:
Eine kleine, ältere, rundliche Frau mit polnischem Akzent. Kaum hat sie den Namen „Ravensbrück“ gelesen, fängt sie an zu erzählen und kann gar nicht mehr aufhören. Sie ist Jahrgang 1935, hat als Kind Häftlinge auf dem Todesmarsch gesehen. Sie weiß noch jede Einzelheit, z.B. wie ihre Mutter durch das Küchengitter hindurch Kartoffeln rausreichte, wie sie dabei erwischt wurde und welche Angst sie dabei ausstand… Sie erzählt ihre ganze Lebensgeschichte, die vor allem aus Fluchten bestand, und sie kommt dabei ganz außer Atem. Sie steht vor dem Kleid und weint hemmungslos. Ich begleite sie nach unten, weil ich Angst habe, dass sie fällt, weil sie wegen der Tränen nicht so viel sieht.
Zwei Frauen aus der Nähe von Bad Kreuznach. Eine von ihnen erzählt, dass ihre Eltern in Ravensbrück mehrere Jahre inhaftiert waren. Sie konnten darüber in der Familie nicht sprechen, sie hat immer nur leichte Hinweise bekommen. Erst nach dem Tod hat sie das meiste erfahren: Die Eltern gehörten einer verbotenen Sekte an. Dem Vater wurden im ersten Verhör sofort alle Zähne ausgeschlagen. Sie haben nie wirklich darüber reden können. Im letzten Jahr fuhr sie nach Ravensbrück, auf der Suche nach der Lebensgeschichte ihrer Eltern. Ich spüre ihre Trauer, es ist etwas Unwiderbringliches verloren. Ich sage ihr den Satz von Frau Prégardier: „In Ravensbrück ist viel gebetet worden. Ihre Eltern gehörten sicher zu den Betern und waren anderen eine Hilfe.“ Ich verspreche ihr, bei Frau Prégardier nachzufragen, ob sie mehr über diese Sekte weiß, ob es eine Gruppe war, die sich gegenseitig Halt und Menschlichkeit bewahrt hat….
Es kommen immer öfter Schulklassen, die ihre Begegnung mit dem „Heiligen Rock“ mit Hilfe des Kleides von Zofia Klinke vertiefen wollen. Heute Morgen waren es gleich zwei hintereinander, die sehr gut vorbereitet waren. Es gibt tatsächlich noch Lehrer und Lehrerinnen, die unbequeme Themen nicht scheuen und ihre Jugendlichen fordern. Im Raum der Stille dauert es immer ein bisschen, bis sie ruhig werden, aber es hilft, einfach geduldig zu sein, bis sich alles Hüsteln und Gerutsche gegeben hat und dann kann eine Atmosphäre der Tiefe wachsen. Das Hauptziel von uns ist, Empathiefähigkeit einzuüben. Das geschieht einerseits dadurch, dass das Kleid mit seinen Spuren und seiner Geschichte direkt anspricht und die Vorstellungskraft wachgerufen wird – aber auch dadurch, dass wir nach den Gefühlen und Gedanken fragen, die die Jugendlichen bewegt. Damit aus der Erinnerung Verinnerlichung wird, die wichtigste Voraussetzung dafür, Erkenntnis und praktische Konsequenz zusammen zu halten.
Es kommen auch SchülerInnengruppen, die noch nichts vom Nationalsozialismus gehört haben und also nicht wissen, welche Art von Kleid vor ihnen liegt. Da genügt die schlichte Beschreibung des Kleides und des Splittuntergrundes, um der Erfahrung von Demütigung und Ausgeliefertsein nahe zu kommen. Die Jugendlichen dürfen das Kleid auch anfassen: Wie fühlt sich der Stoff an, will man so etwas auf der Haut tragen?
Und Ehemalige kommen, „alte NDer“, Leute aus der KSJ Trier, die ihre Verbundenheit zeigen wollen und denen der doppelte Bezug „unseres Kleides“ sofort auffällt: Zum „heiligen Rock“ im Dom und zu den Benachteiligten heute.
Jeden Morgen ist um 11:00 ein GIMP (Geistlicher Impuls) – außer heute, weil eine SchülerInnengruppe kam, mit denen ein erfahrungsbezogener Einstieg wichtiger war als die kontextuelle Lektüre eines biblischen Textes. GIMPs gehen meistens so:
Stille – kurze Einführung in den Text – biblische Lesung – kurze Intepretation und Bezug auf heutige Erfahrungen – Gebet – Stille. Das geht in rund 10 Minuten.Jeden Tag um 11:00 Uhr. Herzliche Einladung!
Was wir machen, ist anstrengend. Abends sind wir platt wie Flunder und haben keinen Antrieb mehr, irgendwohin zu gehen, z.B. in das Abendlob im Dom, das musikalisch sehr schön sein soll. Aber zu uns kommen Leute auch noch nach 18:00 Uhr und wir sind immer da. Gut, dass wir nicht so weit nach Rascheid haben, wo wir in der Küche noch ein bisschen schwätzen und dann früh schlafen gehen. Denn jeden Morgen stehen wir um 7:50 Uhr auf, fahren spätestens um halb neun nach Trier und frühstücken im HelferInnenzelt, wo man uns schon kennt. Das Essen für das Team ist eine gute Sache; wir hätten auch keine Zeit, uns was zu besorgen. Schade nur, dass es fast nie etwas Vegetarisches gibt, das macht einigen Leuten von uns echt Probleme.
Gestern Abend ist es uns gelungen, um halb sieben in den Dom zu gehen und wir standen sofort neben der Tunika. Die beiden Gewänder sprechen danach für mich noch deutlicher miteinander: Die Tunika sieht so ärmlich und verletzlich aus und kommt damit dem Kleid von Zofia Klinke sehr nahe. Mir wird immer rätselhafter, wie man auf einem Jesus, der angeblich ein solch bescheidenes Gewand getragen haben soll, eine Kirche aufbauen konnte, die ein nahezu unüberwindbares Machtsystem mit der dazu gehörigen Ideologie entwickelt hat….
Alle Beiträge zum Projekt “Am Boden – Das Kleid einer KZ-Überlebenden ” finden sich unter dem Tag → “Am Boden”-Ausstellung